Arbeitsblatt CT
"Kaffee, Ei, zwei Brötchen."
Mehr als ein heiseres Fauchen
brachte er nicht hervor, aber das leise Summen der Servomotoren und zwei
grüne Kontrollämpchen, die im Nichts der Dunkelheit zu leuchten
begannen, sagten ihm, daß er wohl verstanden wurde. Er tastete sich
weiter ins Badezimmer. Auch hier war alles dunkel, aber es war immer dunkel
im dreizehnten Untergeschoß. Er fragte sich oft, warum sie ausgerechnet
dreizehn Stockwerke in die Tiefe gebaut hatten, während es über
der Erde dreiundvierzig waren. Momentan war ihm das aber ziemlich egal.
Er fühlte sich elend. Im Bad tastete er sich bis zum schwach beleuchteten
Steuerpanel der Umweltkontrolle und aktivierte die Tageslichtsimulation.
In seiner ganzen Wohnung ging die gut versteckte, indirekte Beleuchtung
an. Ihr Frequenzprofil in Helligkeit und Stimmung sei mit dem Licht eines
Frühlingsmorgens vollkommen identisch, versicherte der Hersteller.
Ihn erinnerte die Stimmung eher an einen Wartesaal im Bahnhof, aber selbst
daran hatte er sich mit der Zeit gewöhnt.
Er schaltete den Hahn auf
'extra kalt', ließ das Wasser in seine aufgehaltenen Hände laufen
und schüttete sich den Inhalt klatschend ins Gesicht. Dann hielt er
den ganzen Kopf unter den Wasserstrom, ließ die belebende Kälte
über seinen kahlen Schädel in den Nacken und über den bleichen
Rücken laufen, bis sich hinter ihm eine Pfütze auf dem Boden
bildetet. Er begann es gerade zu genießen, als der kalte Wasserstrom
unterbrochen wurde. Er richtete sich auf und blickte auf das Umweltkontrollsystem:
"Wasserration verbraucht! Nächste Wasserzuteilung ab 19.00 Uhr",
blinkte es dort auf dem Anzeigefeld.
"Scheiße!" murmelte
er und begann, sich abzutrocknen. Hoffentlich hatte der Küchenautomat
noch genügend Wasser für sein Frühstück erhalten. Er
zog sich an und ging durch den kurzen Gang zurück in die jetzt frühlingshell
erleuchtete Küche. Eigentlich bestand der kleine Raum hauptsächlich
aus dem Küchenautomaten. Er füllte zwei Drittel der Kammer und
war sicher der wertvollste Teil der ganzen Wohnung. Mehrere Kühleinheiten
in Augenhöhe konnten verschiedene Nahrungsmagazine in allen genormten
Standardformaten aufnehmen. Intelligente Verarbeitungseinheiten waren in
der Lage, die unterschiedlichsten Produkte zu entpacken, aufzutauen und
vollautomatisch zuzubereiten. Mehrere Erhitzungssysteme auf Mikrowellen-,
Wasserdampf- oder Infrarotbasis unterstützten sie dabei. Ein zentraler
Microcomputer, der 'Chef de Cuisine' sozusagen, überwachte und steuerte
die ganze Anlage, verwaltete die Vorräte und nahm die Wünsche
des Benutzers entgegen - meistens jedenfalls. Kurz und gut, eine Höllenmaschine.
Sein Frühstück war jedenfalls fertig. An den entsprechenden Verarbeitungseinheiten
blinkten aufmunternd die Lämpchen. Er nahm ein Tablett, öffnete
die Ausgabeschächte und entnahm ihnen Ei, Brötchen und eine Glaskanne
mit drei Tassen Kaffee. Butter, Käse und Marmelade holte er aus dem
normalen Kühlschrank, den es zum Glück auch noch gab. Das Frühstück
schien in Ordnung zu sein, was seine Laune gleich erheblich verbesserte.
Auch im Wohnzimmer war es nun frühlingshell. Er stellte das Tablett auf den niederen Couchtisch. Einige leere Bierdosen gingen dabei polternd zu Boden. Daß der übervolle Aschenbecher ihnen nicht folgte, wertete Conni als gutes Omen für diesen Tag. Jedenfalls hätte es schlimmer kommen können. Nur eine Dose war noch halb voll gewesen, und ein weiterer Bierfleck auf dem filzigen, grauen Teppich fiel gar nicht erst auf. Er ließ sich in einen der drei Sessel fallen, die dem Teppich in nichts nachstanden. Der Raum war angenehm groß. Allerdings war es auch der einzige. Als Conni damals aus dem fünften, oberirdischen Stock unter die Erde ziehen mußte, war dies die einzige Wohnung, die noch frei gewesen war. Es war auch die einzige, die er sich noch leisten konnte.
Er schenkte sich Kaffee ein. Conni hieß eigentlich Konrad
Pawlowski. Obwohl er jedem sagte, daß es eigentlich ein Mädchenname
sei, nannte ihn trotzdem alle Welt nur Conni. Er war knapp über dreißig,
hager und hatte eine beachtliche Nase im Gesicht. Kurz nach seinem Umzug
hatte er sich eine Glatze rasieren lassen. Wieso, wußte er selbst
nicht so genau. Vielleicht nur, damit ihn niemand mehr Conni nannte. Außerdem
sparte er sich seither den Friseur.
Conni lehnte sich zurück und nahm
einen Schluck Kaffee. Sein Blick ging hinaus aus dem großen Wohnzimmerfenster.
Immer noch schläfrig genoß er den Anblick der üppigen Frühlingswiese,
die sich vor dem Fenster ausbreitete. Weit hinten schimmerte glänzend
ein kleiner See, der am Horizont von einem herrlichen Nadelwald begrenzt
wurde. Leises Vogelgezwitscher drang herein. Irgendwo hämmerte ein
Specht. Alles in allem eine wirklich außergewöhnlich schöne
Aussicht, besonders für das dreizehnte Untergeschoß.
In einem
der letzten Naturschutzgebiete - wahrscheinlich im Süden Schwedens,
Conni war sich da nicht ganz sicher - stand eine 3D-WideScan-Kamera und
lieferte diese Aussicht 'Live' in unzählige Wohnzimmer. Der Empfang
war natürlich kostenpflichtig, aber bei den meisten unterirdischen
Wohnungen war die Gebühr in der Miete bereits enthalten. Die Vermieter
wiesen immer wieder gern ausdrücklich auf diesen großzügigen
Service hin, machte er doch eine Wohnung im dreizehnten Untergeschoß
weitaus attraktiver und beruhigte noch dazu angenehm das eigene Gewissen.
Eine großherzige, humanistische Geste sozusagen.
"Aussicht aus!"
sagte Conni, und der Frühling verschwand augenblicklich.
Übrig
blieb eine große, schwarze, mattschimmernde Tafel. Conni konnte nur
schemenhaft sein Spiegelbild erkennen, während er nachdenklich auf
die dunkle, jetzt gähnend leere Fläche starrte. Sie schien gleichgültig
und gelangweilt auf etwas zu warten. Conni nahm noch einen Schluck Kaffee,
zuckte mit den Schultern und atmete laut und schwer ein.
"Mediaschirm
ein", sagte er ohne große Begeisterung und begann, sein Ei zu
bearbeiten. Viel geschah nicht. Nur ein kleiner, grüner Punkt erschien
rechts unten, der sein Dasein zusätzlich durch einen kurzen, hellen
Signalton unterstrich.
"Tageszeitung!" befahl Conni kurz.
Die
riesige, schwarze Tafel erwachte zu ungeahntem Leben. Eine dramatisch anschwellende
Musik mit satten Geigen und donnernden Fanfaren dröhnte durch den
Raum. Über den Mediaschirm jagten in rascher Folge Bilder von Brennpunkten
der Weltpolitik, die allmählich einen großen, abstrahierten
Globus formten, aus dessen Mitte dann ebenso plötzlich wie dramatisch
der Name der Tageszeitung hervorschoß und von einem musikalischen
Donnerschlag unterstützt, auf dem Schirm erstarrte. Es folgte eine
kurze, zögernde Pause.
Das Mediasystem nahm in diesem Moment Verbindung
zu einem der zentralen Datenverteiler des Verlages auf. Connis Zugangsberechtigung
als Abonnent wurde schnell und diskret überprüft und dann der
Datenaustausch mit dem Mediasystem freigegeben.
Jetzt veränderte sich das Bild. Es erschien nochmals der Namenszug der Zeitung in vertraut altertümlichem, gotischem Schriftstil und darunter die Schlagzeilen des Tages, querbeet durch alle Themenbereiche. Bei manchen befanden sich Bilder, bei allen eine kurze, knappe Zusammenfassung des Artikels, der sich dahinter verbarg. Alles schwarz auf weiß und gestochen scharf. Die Bilder waren unterschiedlich groß, aber alle dreidimensional, farbig und detailliert. Die meisten zeigten allerdings zerbombte Häuser und blutüberströmte Leichen. Die zahlreichen schwelenden Bürgerkriege hatten viel zu bieten. Einige grinsende Politiker und ein Schnappschuß vom Tor des Tages rundeten die Titelseite ab.
Conni aß langsam sein Frühstücksei,
während er alles überflog. Im Hintergrund dudelte jetzt leichte
Jazzmusik, die zum Lesen anregen, aber keinesfalls störend wirken
sollte.
Nur ein Artikel auf der Eingangsseite fand Connis Interesse: "Interview
mit Prof Dr. Erika M. - Europäische Ministerin für Arbeit und
Freizeit". Er spülte den letzten Rest Ei mit einem großen
Schluck Kaffee runter und nannte dem Mediasystem die Nummer des Artikels.
Die Titelseite verschwand und eine Liste mit zwölf Fragen, die das
Interview umfaßte, erschien.
"Bitte wählen Sie!" forderte
eine freundliche Männerstimme auf. Conni las die gestellten Fragen
sorgfältig durch.
Wieder ertönte ein aufforderndes: "Bitte
wählen Sie!"
"Jetzt hetz' mich doch nicht", maulte
Conni.
"Kommando nicht erkannt!" kam es zurück.
Inzwischen
hatte sich Conni aber entschieden. Die interessanteste Frage war die fünfte.
Er wählte sie aus. Im nächsten Moment saß er im Amtszimmer
der Ministerin. Milde lächelnd saß sie hinter ihrem großen,
eichenen Schreibtisch und blickte ihn direkt an, das allgegenwärtige,
wohlbestückte Bücherregal dahinter, eine große europäische
Fahne in der rechten Ecke. Der dreidimensionale Effekt war so real, daß
Conni für einen Moment verschämt zusammenzuckte mit der Befürchtung,
sie könne wirklich in sein schäbiges Wohnzimmer sehen. Der unsichtbare
Interviewer stellte die ausgewählte Frage:
"Frau Ministerin,
wo sehen Sie die Ursachen der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt?"
Die Ministerin setzte eine besorgte Miene auf: "Auch wir sind natürlich
beunruhigt über die neuste Statistik. Eine Arbeitslosenquote von 29,8
% kann uns nicht kalt lassen. Allerdings darf man nicht vergessen, daß
diese Zahl auch saisonal bedingt ist. Ich hoffe, da tut sich noch was in
den nächsten Monaten. An dieser Stelle möchte ich aber auch nachdrücklich
darauf hinweisen, daß auch die Arbeitnehmer selbst ihren Beitrag
zu einer Verbesserung der Situation beitragen müssen. Vielen mangelt
es einfach noch an zeitlicher und räumlicher Flexibilität. Jeder
muß bereit sein, in jenem Teil Europas zu arbeiten, in dem er auch
gebraucht wird. Heimatliche Gefühlsduseleien können wir uns nicht
mehr leisten. Auch bei der Ausbildung werden immer noch zu hohe Ansprüche
gestellt. Es geht einfach nicht an, daß junge Menschen ihr Berufsziel
nach Interesse und Neigung wählen. Diese Entscheidung muß sich
ausschließlich nach volkswirtschaftlichen Bedürfnissen richten.
Hier ist vor allem in den Schulen noch viel Erziehungsarbeit zu leisten.
Ich bin zuversichtlich, daß ..."
"Blöde Kuh!"
platzte es aus Conni heraus.
Der Schirm wurde plötzlich knallrot und
ein kurzer, tiefer Warnton durchschnitt den Raum. Auf dem roten Hintergrund
erschien eine schwarze Schrift, die ohne Connis Zutun sofort verlesen wurde:
Achtung! Während einer als 'politisch sensibel' eingestuften Übertragung mit Realitätslevel eins benutzten Sie den Ausdruck: 'Blöde Kuh'. Dies wird als Verunglimpfung oder Beleidigung von Staat oder Regierung bzw. einer diese Institutionen vertretende Persönlichkeit gewertet. Gemäß §27 des 'Gesetzes zur Vorbeugung gegen versteckte, öffentliche Unruhe' werden Sie zu folgender Strafe verurteilt: Reduzierung der nächsten Wasserzuteilung um zehn Liter. |
Der rote Schirm verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Prof. Dr. Erika M. kehrte zurück und nahm ungerührt ihren Vortrag wieder auf.
"Aus!" befahl Conni.Conni suchte nach einem Aschenbecher, der noch eine weitere
Kippe aufnehmen konnte, ohne dabei das gleiche Volumen an Asche an seine
Umgebung abzugeben. Er fand keinen. Statt dessen benutzte er eine leere
Bierdose und entschied sich dann für den Lokalteil. Der Bildschirm
wurde schwarz. Rechts oben blinkte ein roter Schriftzug:
"Accessing,
please wait!"
Conni lehnte sich zurück, legte den Kopf in den
Nacken und schloß einen Moment die Augen. Irgendwie begann die Dunkelheit
in seinem Schädel leicht zu rotieren. Wann war er eigentlich nach
Hause gekommen? Wo war er zuletzt gewesen? Der Abend hatte so harmlos begonnen.
Gerade als einige Erinnerungsfetzen durch den Schleier von Alkohol dämmerten,
holte ihn Klaviermusik wieder in die Gegenwart. Der Schirm zeigte die Eingangsseite
des Lokalteils. Überschriften, Schlagzeilen, einige Bilder. Ein Titel
stach Conni sofort ins Auge:
Er wählte den
Beitrag aus. Das 3D-Bild zeigte einen festlich geschmückten Saal,
gefüllt mit Würdenträgern aller Parteien und Konfessionen.
Conni befand sich irgendwo in der zehnten Reihe rechts außen. Zumindest
stand dort die Kamera. Die Rede war natürlich eine einzige Lobeshymne
auf den Konzern. Die Umsätze seien steigend, die Auflage wachse explosiv,
und die Akzeptanz bei der Bevölkerung sei hervorragend, hörte
Conni weit weniger begeistert als Prof. Dr. K.
"... ganz besonders
freuen wir uns, daß wir dieses Jubiläum mit einem weiteren Meilenstein
in unserer Geschichte krönen können. Nach einer langen und sorgfältigen
Planungsphase und einem beachtlichen Aufwand an Öffentlichkeitsarbeit
ist ein Etappenziel von wirklich historischem Wert erreicht. Es erfüllt
mich mit Stolz, meine Damen und Herren, Ihnen hier mitteilen zu können,
daß sich nun auch die letzte Zeitung unserem Verbund angeschlossen
hat und ab sofort nur noch auf elektronischem Wege über unser Mediennetz
vertrieben wird. Ich denke, Sie stimmen mir alle zu, wenn ich sage, daß
wir dies nicht nur als Erfolg unseres Konzerns, sondern auch als Sieg für
die Umwelt feiern können. Dem ökologischen Unsinn - natürliche
Ressourcen unter erheblicher Umweltbelastung für so kurzlebige Druckerzeugnisse
wie Zeitungen und Zeitschriften zu verschwenden - wurde damit ein Ende
gesetzt. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal betonen, wie stolz
ich ..."
Prof. Dr. K. holte zu neuen Lobeshymnen aus und verstieg
sich dazu, die von Mediatron geschaffene, vollkommen interaktive Vernetzung
als Kulturgut einer neuen Ära zu preisen. Conni verzog den Mund zu
einem angewiderten Grinsen. Er blickte nach rechts zu seinem Schreibtisch.
An der Pinnwand darüber hing ein halb zerfetzter Brief, den er dort
im Suff, voll Wut mit dem Brieföffner aufgespießt hatte. Conni
konnte den Text auswendig:
Sehr geehrter Herr Pawlowski,
wie Sie sicher bereits erfahren haben, wird auch unsere Zeitung in Kürze nur noch auf elekronischem Wege erscheinen. Unsere Druckerei wird in wenigen Monaten ihren Betrieb endgültig einstellen. Leider bedeutet dies, daß wir für Sie keine weitere Verwendung haben. Daher kündigen wir Ihren Arbeitsvertrag zum nächsten Quartalsende auf. Wir wünschen Ihnen auf Ihrem weiteren Lebensweg alles Gute. Mit freundlichen Grüßen die Geschäftsleitung. |
Connis Grinsen wurde breiter: "Du Schwein!" brüllte er,
so laut er nur konnte, Prof. Dr. K. entgegen.
Der Schirm wurde knallrot
...